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Aug 14 2011

die elfte Woche

Es ist Wochenende und ich treffe mich heute mit Andreas, einem meiner Schulfreunde, der Japanologie studiert hat und bereits seit einigen Jahren in Tokios Nachbarpräfektur Saitama lebt. Da wir beide passionierte Zocker (Videospieler) sind, fröhnen wir in den Videospielläden Akihabaras heute mal wieder unserem Hobby. Nach einem anstrengenden aber zufriedenstellenden Bummeltag machen wir uns auf den Heimweg. Am Bahnhof Omiya trennen sich unsere Wege und ich setze mich auf einen Stuhl am Bahngleis für die Züge Richtung Kawagoe.

Der Zug Richtung Tokio am gegenüberliegenden Bahnsteig fährt ein. Er hupt laut und hält verfrüht. Ich blicke zu den wartenden Menschen auf unserer Seite des Bahnsteigs. Eine Menschentraube bildet sich auf der Höhe des Führerhauses. Eltern nehmen Ihre Kinder bei der Hand und zerren sie hastig aus der Menschenmenge Richtung Rolltreppe zum Ausgang. Ich stehe auf und nähere mich der Menge. Deren Blicke starren alle auf eine Stelle unter dem Zug. Einige Frauen drehen sich mit entsetzten Gesichtern weg und halten ihre Hände vor den Mund. Jetzt begreife ich erst was passiert ist. Ein Mann, schwer zu erkennen, vielleicht zwischen 50 und 60, liegt regungslos und blutverschmiert unter dem Zug auf den Betonboden zwischen den Gleisen.

Bahnhof Omiya

Bahnhof Omiya

Was soll ich tun? Lebt er noch? Ich sehe genauer hin. Ja, er atmet. Bevor man hier helfen kann und in den Bahnschacht steigt sollte man sicher gehen, dass die Seite des Gleises auf der man sich befindet gesperrt ist. Denn der Zug nach Kawagoe müsste laut Plan jede Sekunde einfahren. Plötzlich ertönt ein gleichmäßiger, fast schon ohrenbetäubender Alarm und zeitgleich schlagen alle Signalleuchten auf Rot um. Ein eindeutiges Signal, dass alle Gleise nun gesperrt sind und keine Züge mehr einfahren können. Dennoch springt nun niemand in den Schacht um zu helfen. Auch ich bin verunsichert. Schließlich sind hier, im Gegensatz zu einer ungesicherten Unfallstelle auf der Straße, Bahnbedienstete vor Ort, die für solche Fälle ausgebildet sind.

Der Mann liegt auf der Seite und beginnt sich zu regen. Er versucht seinen Arm zu heben. Die Menschenmenge ruft ihm hektisch etwas zu. Er versucht nun auch seine Beine zu bewegen. Jeder Teil seines Körpers regt sich ein wenig. Er scheint also zum Glück nicht querschnittsgelähmt zu sein. Auch hat er, so weit ich es erkennen kann, keine Gliedmaßen verloren. Aber die Blutlache, die ihn umgibt, wird verhältnismäßig schnell größer. Warum dauert es denn so lange, bis jemand mit einer Trage kommt oder einer der Bahnbediensteten nun endlich in den Schacht steigt, um ihn unter dem Zug hervor zu holen? Erst nach fast zehn Minuten kommt ein Mann mit einer Trage. Nun klettern auch Fahrgäste in den Schacht und eilen zur Hilfe. Es ist kein ungefährliches Unterfangen wie sich schnell zeigt. Das Kondenswasser der Zugklimaanlagen hat eine Pfütze auf dem glatten Beton gebildet und ein herbeieilender Fahrgast rutscht in dem Schlamm sofort aus. Zum Glück fällt er nicht auf die harten Schienen.

Nach zwanzig Minuten wird der Mann endlich von mehreren Helfern und Bahnbediensteten mit der Trage auf den Bahnsteig gehievt.

Es dauert weitere zehn Minuten, und der Zug wird vorgefahren und steht nun auf der gesamten Länge des Bahnsteigs. Fast schon als ob nichts passiert wäre wird er abgefertigt und verlässt den Bahnhof Richtung Tokio. Jetzt beginnen Polizisten die Unfallstelle zu dokumentieren. Zeugenaussagen werden aufgenommen. Es war kein Unfall, es war ein Selbsttötungsversuch.

Alles wird genau protokolliert

Alles wird genau protokolliert

Leider gehören auch solche Momente zu Tokios Alltag. Es klingt makaber aber selbst für den Suizid scheint es hier eine Art Kodex zu geben. Und so ironisch es klingen mag, die meisten Japaner halten sich sogar daran. Man bringt sich nicht zur Rush hour um, denn man will schließlich nicht zu viele Menschen auf ihrem Weg zur Arbeit oder nach Hause stören. Ich habe mehrere Japaner gefragt, ob das ein schlechter Witz sein soll, oder ob das wirklich stimmt. Tatsächlich befolgen viele, die sich das Leben nehmen, diese „Regel“ hier. Ich weiß nicht, was ich davon halten soll. Und erst recht nicht, was ich heute fühlen soll. Fassungslosigkeit? Mich freuen, dass der Mann überlebt hat? Mich über diesen Widerspruch wundern, dass sich viele Japaner selbst beim Suizid an eine Regel halten… Es ist einfach eine unfassbare Erfahrung und ich werde wohl etwas Zeit brauchen, um sie zu verstehen.

Fassungslose Blicke

Fassungslose Blicke


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